Diese Tage sind immer auch Lernen: Heute lernt die Sekretärin des Büros nebenan im Erdgeschoss zusammen mit dem jungen Speditionsfahrer, dass die gelieferte Kiste viel zu groß ist, um durch die Türen zu passen, und auch zu groß, um länger auf dem Bürgersteig zu stehen. Trotz der Sonne kratzt nahender Winter mit scharfen Fingern über Haut und Stimmung, entsprechend frostig ist der Austausch zum Thema, der mittlerweile auch den Hausmeister und einige andere eigentlich unbeteiligte Wissende umfasst. Nur Schritte weiter stellt ein Passant mit Hund seinen eher unbeholfen durch den Mittwoch irrenden Mitmenschen in tiefstem Sächsisch die Frage, was wohl passiert, wenn der Honecker wiederkommt, und "de Margot oooch". Augenblicke des Ringens zwischen dem Wunsch, morbide fasziniert zuzuhören, wie sich das Gespräch weiterentwickelt, und dem dringlichen Bedürfnis, Beine in die Hand zu nehmen und Abstand zu schaffen. (Glücklicherweise gewinnt die Vernunft. Zumindest jetzt und hier.)
Es wurde wieder spät, mit dem Pfeifen und Klappern des Windes, mit den zuletzt müden Schritten auf Straße, Brücke zurück ins eigene Viertel, mit der dunklen Leere, die die alten Häuser schon wieder einhüllt, und der Nacht, die über sie wacht. In den Eckhäusern glimmt noch spärliche Beleuchtung hinter hohem, irgendwo im Erdgeschoss ist ein Fenster geöffnet, flieht leise Musik stadtwärts, duftet es nach verschiedenem Rauch. Der Kreis des Tages schließt sich dort, wo Echos der eigenen Füße, vielleicht der eigenen Gedanken, im kalten Treppenhaus widerhallen und die trüben Glühbirnen plötzlich erlöschen. (Heim finden. Ablegen von heute, was abzulegen geht. Und den Rest mit in den Schlaf tragen, auf beiden Schultern und mit größtmöglicher Leichtigkeit.)
Nutzlose Erkenntnisse entlang des Weges: Wenn man die Kopfhörer vergisst, muss man sich selbst lang zuhören, sich selbst lang unterhalten. Je weiter man in die Stadt vordringt, desto mehr weicht die Wildheit des Windes einer Wildheit des Lichtes und der Bilder, und man muss hin und wieder innehalten, um den leichten Schwindel abzuwehren und sich wieder einzuholen. Auch hier Ortlosigkeit in Glas und Beton, wer irgendwie kann, zeigt sich und sieht sich im Glanz der Fassaden. Wer nicht kann, bleibt im Schatten, sieht bestenfalls, wird übersehen und mitunter hat das sogar seine Vorteile. Eine Bahn rumpelt über Gleise, Ampeln schalten. Kaum noch Licht im Horizont und es wird kalt.
Der Tag ist wild, der Mittag ist Sturm. Schwerelose Lindenblätter werden fortgerissen in staubgraue Himmel, auf dem Fußweg zerren die Böen an Werbeflyern der Supermärkte, falten alte Zeitungen um Laternenmasten und treiben kräuseliges Schaudern über die Häute letzter Pfützen. Im Radio hinter der Wand diskutieren aufgebrachte Menschen miteinander in jenem Ton, den man mittlerweile schon als normal einordnet; gegenüber wird neben dem Computer gegessen in trüber Dauerdämmerung. Posteingänge füllen sich schneller, als der Kopf die Themen sortieren kann, mitunter klingeln eigene Telefone, und die Unruhe im herbstlichen Draußen färbt ab, dringt vor und ein, verankert sich tief auch im Drinnen. Heute gibt es nicht zu viel Kaffee.
(Feiertag und die Stadt ist fast leer. Innehalten in einem Café, in dem man das Gefühl für Raum und Ort verliert: Diesselben Menschen, diesselbe Altersgruppe, diesselben Computer neben dem Latte Macchiato, diesselben Netzwerke auf den Bildschirmen, in denen man auf Interaktionen wartet. Seltsam einförmig mondän, mondän einförmig. Der Kaffee geht mit auf die Reise durch die auskühlenden Straßen, vom Fluss her treibt ein frostiger Hauch über die wortkarge Welt. Erste Kristalle in den letzten Rosen. Schwimmen im farblosen Kontinuum.)
Irgendwann gewinnt der Herbst doch. Auch: Wer die Stunden in geschlossenen Räumen verbringt, fröstelt mehr als erwartet, wenn die kalte, nasse Luft plötzlich auf Gesicht und Händen kratzt und in Tröpfchen über die Wangen rinnt, fast eisesgleich. Wenn glatte Wege unsichere Reifen und Füße fordern und eine ungelenke Landung im Schlamm mehr als einmal greifbar nah scheint. In den Randbereichen sind die Gewerbebrachen dunkel wie immer, die Supermärkte belebt wie selten, und im Wesentlichen braucht es wohl Konserven, Schokolade und Bier, den Mittwoch zu überstehen. Eile und Hartnäckigkeit als Gebot des Abends, und glücklich jener, hinter dem die großen beschlagenen Türen wieder schließen. Knapp über Null, noch immer kein Schnee.
Erstkontakte außerhalb der eigenen vier Wände, am Fahrradständer im noch leeren Keller. Schon wieder zwischen den Realitäten, mit vager Ahnung vom neuen Tag und kaum Erinnerungen der zurückliegenden Nacht. Im anderen Viertel rollt der Hausmeister große Mülltonnen über den Fußweg, die erste Zigarette im Mundwinkel und einen knappen Gruß nickend. Auch heute dichtes Grau, von Horizont zu Horizont, nur über dem höchsten Teil des Büroblocks zeigen sich vorsichtige helle Spuren, umgleiten die Fassaden, lassen Architektur und Augenblick unwirklich traumgleich erscheinen. (Zweiter Kaffee. Noch ein paar Worte in der Küche, zum Geleit. Manches trägt jeder für sich, manches teilt man. Auch im Brunnenbüro etliche Stockwerke über dem Beton. Habt es mild heute!)
Fortgeschrittener Abend und noch immer in der Schleife. Nicht von den offenen Dingen lassen können, nicht von den offenen Dingen losgelassen werden. Strukturen brachen, in den verbleibenden Teilen finden sich keine geeigneten Formen, die besser tragen würden. In den verbleibenden Teilen verändert sich das große Ganze grundlegend, sobald man nur ein einziges Fragment verschiebt. Mikado-Stäbchen fallen vor dem inneren Auge, und man versucht, im Trüben die Farben ihrer Ringe zu erkennen. (Neben der Kneipe parkt ein Auto aus, Nachbars Hund bellt erschrocken. Einzelne Sterne, ein blinkendes Flugzeug weit oben, der Himmel dunkelblau, die Wolken davor fast weiß. Klar die Luft, müde auch diese Nacht.)