Der Sonntag und seine Bilder: Verschneite Felder entlang schmaler Straßen. Kein Horizont, nur manchmal Wälder und Straßenbäume als schwarze Schraffuren auf dem sonnenlos hellen Weiß. Feiner Nebel über allem, die Welt fühlt sich nass und kalt an. Gelegentlich Dörfer am Wegesrand, halb verfallene alte Bauernhöfe, ein einsamer roter Weihnachtsstern am äußersten Ende einer graugelben Fabrikhalle. Bahngleise, die durch die wellige Ebene schneiden und irgendwo in den Hügeln verschwinden. Man kennt die Namen, man kennt einige der Häuser, aber es fehlen Gesichert und Geschichten dazu. Mit der Dämmerung werden die Fassaden heller, die struppigen Tannen in den Vorgärten auch, der Landstrich lebt auf in der Jahreszeit, die ihm am liebsten scheint. Und die er manchmal wohl dauerhaft festhalten will, immer wie an einem dunklen Nachmittag im Advent.

Nutzlose Erkenntnisse entlang des Weges: Wenn man die Kopfhörer vergisst, muss man sich selbst lang zuhören, sich selbst lang unterhalten. Je weiter man in die Stadt vordringt, desto mehr weicht die Wildheit des Windes einer Wildheit des Lichtes und der Bilder, und man muss hin und wieder innehalten, um den leichten Schwindel abzuwehren und sich wieder einzuholen. Auch hier Ortlosigkeit in Glas und Beton, wer irgendwie kann, zeigt sich und sieht sich im Glanz der Fassaden. Wer nicht kann, bleibt im Schatten, sieht bestenfalls, wird übersehen und mitunter hat das sogar seine Vorteile. Eine Bahn rumpelt über Gleise, Ampeln schalten. Kaum noch Licht im Horizont und es wird kalt.

Irgendwo zwischen den Welten. Einige Meter weiter über dem Meer ist der Herbst unwirklich langsamer, sonniger, goldener als in der grauen Stadt. Trotzdem tiefer Schlamm auf den Wegen, Tropfen im letzten Gras des Jahres. Ein Hund schlendert die Ausfallstraße hinunter hin zum Wald, Eile gehört nicht zu seinem heutigen Takt. Als Ahnung nur noch die Geräusche der Autobahn, ein Hubschrauber zieht über die Hügel und verschwindet als kleiner Punkt am Horizont. Gegenüber vor dem Tor lungern noch große Kürbisse mit verfallenden Gesichtern. Die Kirchturmuhr schweigt und schläft. (Wir bleiben wohl immer ein Stück von dem, wo wir unseren Ursprung haben. Egal, wohin unsere Pfade führen.)

Anderswo. Alte Neubauten am Waldrand. Pflaster in stabilen Wellen, dazwischen drängen immer wieder die Wurzeln von Bäumen zum matten Tageslicht. Balkonkultur: Leben mit Katzentreppen, rostigen Regalen voller Kartons und unzeitiger Weihnachtsdekoration entlang von Fassaden, die mit den Jahren und dem Regen schwarz wurden. Moos wuchert an der Dachrinne, von oben spielt wütende Musik, und man sieht zu, dass man wieder im Gestrüpp, im welkenden Grün, im nassen Laub verschwindet. Jeder malt das Bild seines Sonntags selbst.

Später in den Vororten, entlang weiter gezogener Kreise. Eigentlich liegt längst schon wieder frühe Finsternis über allem, trotzdem irrlichtert noch etwas des eigentümlichen Herbstglanzes durch das Gold an den Bäumen und auf den Wegen. Auch die Wolken scheinen heute weißer als sonst über Straßen, Gleise und dem nahen Wald zu treiben. So weit das Auge reicht, ziehen sich flache Betonbauten in den Abend. Und irgendwo dazwischen findet sich immer ein Supermarkt, in dessen Gravitation das Leben des abklingenden Tages rotiert. Vor diesem hier weist gerade die junge Verkäuferin der Bäckerfiliale zwei dunkle Typen zurecht, die halb im Schatten neben den Schaufenstern herumlungern. Ein Mann in Sakko und Krawatte will ihr mit gönnerhaft-erwachsenem Tonfall zur Seite stehen, erntet einen bösen Blick und bleibt ohne weitere Worte vor der schließenden Glastür zurück. Die nächste Böe nimmt zwei Kastanienblätter und einen Prospekt mit Sonderangeboten an sich. Gültig ab Donnerstag. Nebenan rennen und bellen zwei Hunde hinter hohen Zäunen. Der Parkplatz leert sich.  

Dann wird es Abend in der Neonvorstadt, zwischen Gewerbegebiet und Autobahn. Kühle Finsternis greift um sich, aber unter den hohen Metalldächern lebt immer diesselbe Wärme, dasselbe Licht. Kurzer Anflug von Schwindel, an einer der zahllosen Verzweigungen in Seitengänge, die alle anders und doch ununterscheidbar anmuten. Dazwischen ziehen die Auffälligen ebenso fern vorüber wie die ewig Unsichtbaren, der Raum fühlt sich weiter, ausladender an, als er tatsächlich ist. Ferne lebt auch außerhalb, wo Gesichter sich verstecken hinter Scheinwerfern und Glas, in seltsamem Ballet umeinander kreisen, dann und wann hupen, den Grenzen dieses Viertels irgendwann entliehen allein mit all dem eigenen Dunkel nach langem Tag. (Dem Himmel fehlt die Klarheit für Sterne, wie es scheint.)

Einige Minuten weiter im Leerland zwischen den Schnellstraßen. Aus einem chromblitzenden Geländewagen singt Johnny Cash, daneben an der Kreuzung schläft ein heruntergekommener Wohnanhänger unter Dreck und trockenen Lindenblüten. Am kleinen Fluss hocken Teenager in dicken Jacken und rauchen, während hagere weiße Männer mit Stirnlampen in den Abend joggen. Ein großer Flieger zieht weit oben seine Bahn, glänzt im Sonnenuntergang. Die Bäume werden gelb, alles ist fern, nichts ist fern.