Zwischen den Häusern, zwischen den Stunden. Es regnet. Gelegentlich fühlen sich die Schritte weich und leise an, dann findet man letzte dunkelbraune Haufen nassen Laubs, wieder freigelegt vom geschmolzenen Schnee. Im Supermarkt des geringsten Misstrauens wird im Kassenbereich gebaut, nur ein Band ist frei, die Schlange lang wie selten, und es zeigt sich: Rücksichtslose Arroganz kennt kein Alter, kein Geschlecht, keine soziale Gruppen. Der junge Kassierer reagiert zunehmend genervt auf jede Frage, warum denn alles so lang dauert. Weiter hinten wird über die Raucher und Trinker geschimpft, weil im Gang Wägen mit Zigaretten und Fusel stehen und irgendwer wohl dort die Ursache des Wartens ausgemacht hat. (Und ja, dort, wo ehedem Süßigkeiten Kinder am Ausgang fangen sollten, werden die Warenträger größer, die Flaschen kleiner, die Getränke hochprozentiger, vis-a-vis der Auslagen mit Boulevard-Magazinen und Tagespresse. Vielleicht gibt es ja verborgene Zusammenhänge.)
Dann: Vorabend am Fluss. Von den Häusern her treibt rauhe Luft voller Eis und Kohlenrauch über die Wiesen. Schmutziges Weiß, alter Sandstein, rostrote Laternen, für den Augenblick lebt ein Gefühl ferner Tage auf, ein Gefühl von Stadt, das man nur von den Fotos und Geschichten kennt, in dem Männer gezwirbelte Schnurrbärte und abgewetzte Anzüge mit Weste tragen und irgendwie immer Winter herrscht. Im Supermarkt des geringsten Misstrauens durchmischt sich das Personal, jene, die schon seit Ewigkeiten hier arbeiten und stets entspannt blieben, treffen auf die Zornigen, Unzufriedenen, die verschwunden sein werden, sobald sich Gelegenheit bietet, und die freundlichen Resignierten, denen man das Unwohlsein in der Situation genau so anfühlt wie das Unvermögen zu Anderem in diesem Abschnitt ihrer Leben. Aber vielleicht überzeichnet man auch Eindrücke, in den Farben, die die eigenen Gedanken, die eigene gelegentliche Schwere mehr oder weniger trüb auf die Fasern dieser Zeit malt. Und so bleibt man auch freundlich mit allen, erwartet wenig dafür, packt seine Kartons und Tüten in den alten Rucksack und zieht wieder hinaus, in den alten kalten Winter.
(Man legt den Tag ad acta, wenn man aus Versehen alle Tabs geschlossen hat und den Verlauf nicht mehr rekapitulieren kann. Augenblicke weiter taucht man unter in der Überraschungs-Stoßzeit des Freitags, immer irgendwann und immer fordernd. Die Schlange im Supermarkt des geringsten Misstrauens reicht bis zwischen die Kühltruhen, einige Wartende diskutieren ihre Arbeitswoche, andere die Unfähigkeit des Personals, einige wenige die Rücksichtslosigkeit der Anwesenden, genau um diese Zeit hier sein zu müssen. Es wird leise Abend. Neben dem Betonplatz vor den Türen knarrt ein kahler, trockener Baum, in dessen Ästen ein ebenso trockenes Vogelnest ruht. Wetter kratzt im Gesicht, und für den Moment wirft das Gefühl Schneeflocken und Eiskristalle in den rauhen Wind.)
Vor dem Supermarkt des geringsten Misstrauens finden in der Sonne die üblichen Wegbegleiter zum zweiten Bier des Tages zusammen. Vormittag am frühen Wochenende, schwer bepackte Wägen rollen durch die Tür, werden in ebenso schwere, sauber glänzende Autos verladen. An der Kasse brüllen die Schlagzeilen der üblichen Zeitungen den gewohnten Hass in die klimatisiert kühle Luft, und für den Augenblick möchte man alle Lokalitäten boykottieren, die Menschen diesen Anblick unvermeidbar aufzwingen. Aber wahrscheinlich würde dies zur tagesfüllenden Herausforderung, die Nachfrage trifft das Angebot und man fällt zurück in kurze Resignation und die Frage, ob man vielleicht selbst nur in einer eigenen Welt lebt, die nicht dem Rest der Realität entspricht, und deswegen demütig und still sein sollte. (Zahlen. Einpacken. Weiterziehen. Gartenzaunfreundlichkeit und fremde Gesichter.)
Gefühlt nur einen Augenblick später: In der Straße spielen zwei Nachbarskinder mit Holzwaffen und schreien und brüllen dazu, als wäre der Leibhaftige hinter ihnen her. Aber anders als hier ist der Zorn im Supermarkt des geringsten Misstrauens echt. Vorfeiertagsstimmung. Die Paletten mit Sonderangeboten werden leerer, die Kunden entschlossener, der Ton entgleitet mehr und mehr ins Ruppige. Davon unbeachtet lädt die junge Studentin von gegenüber Wein und Obst in den Wagen, hinter der Kasse, bezahlt mit Kreditkarte. Vertieft in ein Telefonat, in dem es hörbar um das schadlose Herausschleichen aus versprochener Arbeitsleistung geht, nimmt sie die etwa gleichaltrige Kassiererin, die seit dem frühen Morgen in ihrer Schicht sitzt, wohl gar nicht wahr. Gelangweilt spielt der Wind durch die Büsche vor den Türen, warme Sonne lügt von Sommer und helleren Tagen. Der Takt zählt weiter, langsam, aber ruhelos.
Der Supermarkt des geringsten Misstrauens atmet Weihnachten. Vor dem neuen Bestseller-Regal voller belangloser Paperbacks steht eine rote Front mit Batterien, Kerzen und großen Packen an Streichhölzern, die ein Kind in Regenkleidung und Fahrradhelm sehr interessiert erforscht. Elterlicher Eingriff verhindert Flammen und Tränen, die Kassenschlange übt sich in Abwesenheit und unterdrücktem Grinsen. Auch hier heute zu viele Menschen, zu wenig Raum, die Luft wird dünn. Aber danach glänzt späte Sonne auf Beton, der Vorabend fühlt unerwartete Wärme, Nebel steigt über die Flachbauten. (Interludium zwischen Büro und Haustür. Ermattender Takt.)
Mittagsexkurs: Die in der Hosentasche verschwunden scheinende Münze findet sich wieder ein, sobald man eine zweite Münze einsteckt. Gut, dass zumindest manche Grundprinzipien noch funktionieren. Im Supermarkt des geringsten Misstrauens werden hastig die Regale befüllt. Der Ansturm vor dem Feiertag bleibt bislang noch aus. Die freundlich Verpeilten schlafen wohl alle noch, dafür läuft man immer wieder in die unfreundlich Verpeilten, die Verkrampften und Verkniffenen, denen man sonst lieber aus dem Weg geht. Das Kassenpersonal umgibt heute eine intensive Aura von Zigarettenrauch und abgestandener Marktluft, und so ist man froh, hat man erst einmal wieder den Weg gefunden auf den warmen Beton, über dem die Sonne flimmernde Luftmuster zeichnet. Warmer Asphalt unter dünnen Sohlen, schneller Schritt zum nächsten Takt in einem langsamen Rhythmus, heute. Fortsetzung folgt.
Hinter den Stunden kämpft der Supermarkt des geringsten Misstrauens mit relativen Zeitangaben: Die neuen Kollegen des Vorjahres sind jetzt die alten Neuen. Die neuen Neuen wuseln zwischen den Regalen, stolpern über Warenträger und leere Kartons und suchen die richtigen Fächer, die richtigen Schilder, ihr Selbstvertrauen und den Feierabend. Über die Lebkuchen und Spekulatius hinaus steht jetzt auch der Winterhopfen in den Kästen; auf kaltblauen Etiketten tragen Arbeiter in roten Kutten Fässer durch eine verschneite Nacht. Ein mittelalter Herr im abgegriffenen Büro-Anzug lernt den Mindestbetrag für Kartenzahlung, packt dafür kurz entschlossen eine Flasche Korn aufs Band, die verstörten Blicke von Frau und Kind scheinbar übersehend. Dann schließen die Türen, Lichter erlöschen. Kalter Erntemond strahlt über den Flachbau. Der Tag verweht.