Supermarkt des geringsten Misstrauens, und Kälteschock nach der Hitze über dem Asphalt. Manchmal trifft man auf Menschen, mit denen man noch Dinge zu klären hat. Manchmal findet man in den Taschen der eigenen Shorts Werkzeuge vergangener Sommer, deren Kontext sich einem nicht mehr richtig erschließt. Manchmal hat man den Eindruck, die Praktikanten könnten nicht nur die eigenen Kinder, sondern schon die eigenen Enkel sein, und wundert sich, wieviel spröde Freundlichkeit man sich selbst in jener Zeit des eigenen Lebens wohl gewagt hätte. Sieht den eigenen ergrauenden Bart in der Spiegelung des Plexiglas. Und stellt sich viel mehr Fragen zur eigenen Person im Jetzt und Hier, als man gern beantworten möchte. (Zitronen, Mehl, Joghurt. Noch mehr Alltäglichkeiten  zwischen den Stunden.)

Irgendwo entlang des Tages. Der Supermarkt des geringsten Misstrauens zieht immer verschiedene Menschen an; heute treffen Mittagseinkäufer, die dem Drang des Alltags folgen, auf jene, die in den immer neonhellen, temperierten Gängen vor Sonne und Asphalthitze suchen. Wenig Kommunikation, man meidet sich. Schweiß auf Stirnen. Beeindruckend, wie sehr sich Stimmungen in Gesichtern unterscheiden können, obwohl alle dasselbe sagen. Ein älterer Herr an der Kasse zieht seinen Gürtel straff, legt die übliche Tageszeitung aufs Band, und eine Dose Whiskey-Cola; mit dem Verschwinden der Schokoriegel aus dem direkten Greifbereich sind die Substanzen der Wahl härter geworden. (Zahlen, Dinge vergessen, Hektik, Entspannung. Und dann Mut gefaßt und durch die Türe getreten.)

Mittag in forschem Wind. Vor dem Supermarkt des geringsten Misstrauens ist ein kleiner struppiger Hund am Fahrradständer geparkt, der abwechselnd an seiner Leine beißt und Passanten verbellt, aber das Bellen klingt eher spielerisch und aufgeregt als wütend. Hinter den Türen stopft ein junger Mann Flasche um Flasche in den Pfand-Automaten, gelegentlich unterbrochen von Pausen, wenn das Gerät die Annahme verweigert und in den Gefäßen verbliebene Neigen an Ort und Stelle ausgetrunken werden, bis der Prozess weitergehen kann. Prozess, auch: Wenn schwer erlernbare Selbstzahlerkassen auf schwer lernunwilliges Publikum stoßen, entsteht ein interessantes Konfliktpotential, das aufzulösen dem neuen Personal heute nicht gut gelingt. Und für einige Augenblicke macht der unfreiwillig-bittere Unterhaltungswert der Szene den Verlust an Zeit wieder wett, während die Minuten langsam weiterstolpern.

Einschwingen: Im Supermarkt des geringsten Misstrauens schmücken sich die Warenträger, die den Ausgangsbereich zustellen, mit Nationalfarben, aufgedruckt auf, eingewoben in, angenäht an allen möglichen Ramsch. Ein aufgeregter Papa kauft Sammelpunkte und ein Spielheft für seinen deutlich entspannteren jungen Sohn. Gänge weiter diskutiert eine ältere Dame mit dem Verkaufspersonal über Toilettenpapier und die Pandemienachwirkungen auf eigene Vorratshaltung. Unerwünschtes Wissen, das man nicht mehr losbekommt, bleibt ein irritierendes Ärgernis. (Zusammensuchen, was es braucht. Unkonzentriert bezahlen. Zur falschen Zeit den falschen Gruß murmeln, weil die Situation das eigene interne Protokoll unterbrochen hat. Und dann durch halb geschlossene Lider ein zur Ruhe kommendes Viertel beobachten. In Bewegung sein, auch: Um ankommen zu können.)

Immer noch ist die Akzeptanz nicht besonders groß für die Selbstzahlerkassen im Supermarkt des geringsten Misstrauens, dafür werden die Schlangen an den gewohnten Bändern länger, die Gänge im Rückstau voller. Heute treffen besonders unsichere junge Bedienstete auf besonders selbstbewusste Kunden, die keine Zeit und keine Lust haben und allesamt viel zu wichtig sind, zwischen Müllbeuteln und Kisten voller Standard-Pilsener zu stehen und sich auch nicht zurückhalten können, allen anderen das Warten durch missmutiges Gebrabbel noch schwerer zu machen. Ein vollständig rosafarben gekleidetes, sehr junges Mädchen flieht erneut in Richtung Süßwarenabteilung, gefolgt von einem sichtlich gestressten Vater, der Nachdruck mit Lautstärke verwechselt und viel mehr Familien-Interna unter dem kalt leuchtenden Neonhimmel zurückläßt, als es ihm wohl bewusst sein dürfte. (Zumindest dabei entsteht hier und dort Erheiterung, huscht ein gelegentliches Grinsen über müde Gesichter. Ziel auch erreicht. Irgendwie. Draußen fällt ein Fahrrad um. Es wird Abend.) 

Etwas orientierungslos, einiges weiter durch die Zeit. Der Praktikant im Supermarkt des geringsten Misstrauens hockt im Vorraum auf dem Fußboden und isst Nudeln aus einer Pappschachtel. Neue Waren in alten Fluren sorgen für Gedränge auch bei wenigen Besuchern. Ein zorniger junger Mensch schiebt sich durch die Enge, zwei schwere Packtaschen links und rechts am Wagen hängend, und brennt mit Blicken jeden, der nicht schnell genug das Weite gesucht hat. Draußen schneiden Bauarbeiter mit einer großen Säge in die Straße, der Klang geht durch Mark und Bein. Rückzug, schnell. (Auch: Sinnieren über allgemeines Tempo und eigene Schrittgeschwindigkeiten. Auge in Auge mit dem Gefühl, an verschiedenen Stellen den Anschluss zu verlieren, und der noch seltsameren Wahrnehmung, an manchen Stellen den Anschluss bewusst verlieren zu wollen. Tee unter bleichem Himmel. Nachmittag.)

Halb durch den Tag und immer noch nicht gänzlich bewusst. Im Supermarkt des geringsten Misstrauens unterhalten sich fremde Kunden mit fremdem Personal, die Gänge sind überfüllter mit Warenträgern als an einem normalen Freitag. Der junge Mann an der Kasse wirkt heillos überfordert mit der länger werdenden Schlange, eine freundliche, aber ebenso hilflose Praktikantin versucht erfolglos, die Kunden auf die neue Linie aus Selbstzahlerautomaten umzuleiten, und für den Moment bleibt gänzlich verborgen, wo hier Absicht im Plan sind und wo der Plan komplett versagt hat. (Auch: Unerwünschte Nebenwirkungen von gutem Willen spüren, auf der Seite des Empfängers. Immer gerade genug Lächeln mit sich führen, um Situationen zu entschärfen und trotzdem halbwegs im Einklang mit sich zu bleiben. Gelbe Blüten über dem Beton. Indifferentes Licht.)

Unterwegs durch denselben Baustellenlärm an einem anderen Mittag. Im Supermarkt des geringsten Misstrauens dankt die einzige festangestellte Mitarbeiterin den jungen Praktikanten, die es geschafft haben, alle gelieferten Waren in alle Regale zu räumen. Ein grauer Dutt wandert über dickem Pelzmantel durch die Gänge, beides gehört zu einem älteren Herrn, der sich ebenso enthusiastisch wie planlos müht, seinen langen Einkaufszettel abzuarbeiten, bislang aber nur Porree und Salzstangen in seinem Wagen fährt. Die Auslagen mit Gemüse und Blumen stimmen genau so trübsinnig wie das Regal mit der Tagespresse, und viel davon scheint auf die Zeitgenossen unter dem Neonhimmel abzufärben: Manchmal erzeugt ein Lächeln ein Lächeln, aber manchmal verschwindet ein Lächeln in seinem Echo. (Bezahlen, Türen öffnen und schließen lassen, den Wolken zunicken. Es darf weitergehen.)