(Man legt den Tag ad acta, wenn man aus Versehen alle Tabs geschlossen hat und den Verlauf nicht mehr rekapitulieren kann. Augenblicke weiter taucht man unter in der Überraschungs-Stoßzeit des Freitags, immer irgendwann und immer fordernd. Die Schlange im Supermarkt des geringsten Misstrauens reicht bis zwischen die Kühltruhen, einige Wartende diskutieren ihre Arbeitswoche, andere die Unfähigkeit des Personals, einige wenige die Rücksichtslosigkeit der Anwesenden, genau um diese Zeit hier sein zu müssen. Es wird leise Abend. Neben dem Betonplatz vor den Türen knarrt ein kahler, trockener Baum, in dessen Ästen ein ebenso trockenes Vogelnest ruht. Wetter kratzt im Gesicht, und für den Moment wirft das Gefühl Schneeflocken und Eiskristalle in den rauhen Wind.)
Vor dem Supermarkt des geringsten Misstrauens finden in der Sonne die üblichen Wegbegleiter zum zweiten Bier des Tages zusammen. Vormittag am frühen Wochenende, schwer bepackte Wägen rollen durch die Tür, werden in ebenso schwere, sauber glänzende Autos verladen. An der Kasse brüllen die Schlagzeilen der üblichen Zeitungen den gewohnten Hass in die klimatisiert kühle Luft, und für den Augenblick möchte man alle Lokalitäten boykottieren, die Menschen diesen Anblick unvermeidbar aufzwingen. Aber wahrscheinlich würde dies zur tagesfüllenden Herausforderung, die Nachfrage trifft das Angebot und man fällt zurück in kurze Resignation und die Frage, ob man vielleicht selbst nur in einer eigenen Welt lebt, die nicht dem Rest der Realität entspricht, und deswegen demütig und still sein sollte. (Zahlen. Einpacken. Weiterziehen. Gartenzaunfreundlichkeit und fremde Gesichter.)
Gefühlt nur einen Augenblick später: In der Straße spielen zwei Nachbarskinder mit Holzwaffen und schreien und brüllen dazu, als wäre der Leibhaftige hinter ihnen her. Aber anders als hier ist der Zorn im Supermarkt des geringsten Misstrauens echt. Vorfeiertagsstimmung. Die Paletten mit Sonderangeboten werden leerer, die Kunden entschlossener, der Ton entgleitet mehr und mehr ins Ruppige. Davon unbeachtet lädt die junge Studentin von gegenüber Wein und Obst in den Wagen, hinter der Kasse, bezahlt mit Kreditkarte. Vertieft in ein Telefonat, in dem es hörbar um das schadlose Herausschleichen aus versprochener Arbeitsleistung geht, nimmt sie die etwa gleichaltrige Kassiererin, die seit dem frühen Morgen in ihrer Schicht sitzt, wohl gar nicht wahr. Gelangweilt spielt der Wind durch die Büsche vor den Türen, warme Sonne lügt von Sommer und helleren Tagen. Der Takt zählt weiter, langsam, aber ruhelos.
Der Supermarkt des geringsten Misstrauens atmet Weihnachten. Vor dem neuen Bestseller-Regal voller belangloser Paperbacks steht eine rote Front mit Batterien, Kerzen und großen Packen an Streichhölzern, die ein Kind in Regenkleidung und Fahrradhelm sehr interessiert erforscht. Elterlicher Eingriff verhindert Flammen und Tränen, die Kassenschlange übt sich in Abwesenheit und unterdrücktem Grinsen. Auch hier heute zu viele Menschen, zu wenig Raum, die Luft wird dünn. Aber danach glänzt späte Sonne auf Beton, der Vorabend fühlt unerwartete Wärme, Nebel steigt über die Flachbauten. (Interludium zwischen Büro und Haustür. Ermattender Takt.)
Mittagsexkurs: Die in der Hosentasche verschwunden scheinende Münze findet sich wieder ein, sobald man eine zweite Münze einsteckt. Gut, dass zumindest manche Grundprinzipien noch funktionieren. Im Supermarkt des geringsten Misstrauens werden hastig die Regale befüllt. Der Ansturm vor dem Feiertag bleibt bislang noch aus. Die freundlich Verpeilten schlafen wohl alle noch, dafür läuft man immer wieder in die unfreundlich Verpeilten, die Verkrampften und Verkniffenen, denen man sonst lieber aus dem Weg geht. Das Kassenpersonal umgibt heute eine intensive Aura von Zigarettenrauch und abgestandener Marktluft, und so ist man froh, hat man erst einmal wieder den Weg gefunden auf den warmen Beton, über dem die Sonne flimmernde Luftmuster zeichnet. Warmer Asphalt unter dünnen Sohlen, schneller Schritt zum nächsten Takt in einem langsamen Rhythmus, heute. Fortsetzung folgt.
Hinter den Stunden kämpft der Supermarkt des geringsten Misstrauens mit relativen Zeitangaben: Die neuen Kollegen des Vorjahres sind jetzt die alten Neuen. Die neuen Neuen wuseln zwischen den Regalen, stolpern über Warenträger und leere Kartons und suchen die richtigen Fächer, die richtigen Schilder, ihr Selbstvertrauen und den Feierabend. Über die Lebkuchen und Spekulatius hinaus steht jetzt auch der Winterhopfen in den Kästen; auf kaltblauen Etiketten tragen Arbeiter in roten Kutten Fässer durch eine verschneite Nacht. Ein mittelalter Herr im abgegriffenen Büro-Anzug lernt den Mindestbetrag für Kartenzahlung, packt dafür kurz entschlossen eine Flasche Korn aufs Band, die verstörten Blicke von Frau und Kind scheinbar übersehend. Dann schließen die Türen, Lichter erlöschen. Kalter Erntemond strahlt über den Flachbau. Der Tag verweht.
Mittag. Immer zu früh immer zu spät. Immer am Kalender: Blaue Blöcke rollen vorbei, verändern Form und Größe, überschlagen sich, zerbrechen in tausend Teile. Am Straßenrand hat wucherndes Unkraut mittlerweile buschhohe Ausmaße angenommen. Bis auf die Hunde des Viertels, die das dankbar begrüßen, nimmt niemand wirklich Notiz. Ungeordnete Abläufe auch im Supermarkt des geringsten Misstrauens. Altes Personal weist neues Personal ein und zurecht. Die falschen Dinge in den falschen Regalen, immer noch fehlt einiges und vieles ist ohnehin zu teuer. Hinter der Kasse sortiert ein junger Mann seine Waren in den Korb und legt dabei Dinge in einem Rhythmus und Muster ab, bei dem es schwer fällt, die eigenen irritierten Blicke von den Händen zu lösen. (Auch: Diskussion über Relevanz und Hausaufgaben in der Textspur. Halbe Pause, halber Termin. Same old.)
Dann Mittagspause abseits. Im Supermarkt des geringsten Misstrauens herrscht weite Stille, selbst die Musik, die manchmal fest mit dem Gebäude verbaut scheint, schweigt heute. Ein junges Pärchen sortiert lustlos Äpfel und Birnen in ihren Korb, einige Meter weiter türmen sich Lebkuchen hinter welkenden Blumensträußen dem Neonblechdach entgegen. Regallücken füllen sich wieder, nur über den Preisschildern für Korn und Whiskey gähnt immer noch Leere. Der neue Verkäufer lebt von sehr zurückhaltender Freundlichkeit, die versuchtem, aber schlechtem Humor in die Quere kommt. Also packt man in den Wagen, was man hat, bezahlt und sieht zu, das Weite zu finden. (Der Wind treibt Laub und eine weiße weiche Feder über den Parkplatz. An der Ecke sitzen Schüler mit Brotbüchsen und lachen. Schatten der Stunde sind kürzer, als sie sich anfühlen.)